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Um drei Uhr nachts stand der Alte erneut im Regen. Er war im Laufe des Abends ins "Prjet" gegangen, eine der wenigen Kneipen, die es noch wagten, in Ostoskoye ihre Türen zu öffnen. Doch irgendwann gingen auch dort die Lichter aus, und Groshky ahnte, dass es eine ungemütliche Nacht werden würde. Der Regen war nur noch stärker geworden, doch der Alkohol, der Mittlerweile seinen Kreislauf unsicher machte, hatte eine angenehm betäubende Wirkung. Groshky hatte sich im "Prjet" mit einer Frau unterhalten und sich dann auf der Toilette einen runtergeholt. Er war stolz darauf, denn die meisten Männer in den Gebieten um das Dreckloch Ostoskoye und den Industrie-Moloch Lelew hatten spätestens mit der Volljährigkeit auch Probleme mit Impotenz. Die Fremde hatte - wenn er es durch seinen Vorhang aus Alkohol noch richtig verstanden hatte - sogar angeboten, ihm zur Hand zu gehen, doch er hatte nur mit einem dreckigen Grinsen geantwortet, er könne sie nicht bezahlen, und machte es sich selbst.
So ganz genau konnte er sich nicht mehr erinnern, wie er den Weg aus dem "Prjet" herausgefunden hatte, aber er stand dort in der Gasse vor den schweren Stahlvorhängen, die diese letzte Bastion geordneten Lebens schützen sollten. Er wunderte sich, dass er stehen konnte, denn sein Gleichgewichtssinn befand sich bereits im Tiefschlaf. In einem kurzen, wacheren Augenblick fand er Zeit, sich über seinen aufrechten Gang zu wundern, und es war auch dieser Moment, in dem ihm gewahr wurde, dass er sich nicht alleine aufrecht hielt. Irgendwo war diese Frau. Er erkannte sie am Gang und an ihrer engen Lederhose. Dann war sein Kopf wieder wie in Watte gepackt, während der Regen drüben - in der Welt der wahren Wahrnehmung - in kleinen Rinnsälen aus seinem spärlichen Haar über sein Gesicht rann.
Später wurde er noch einmal etwas klarer. Er saß im schlammigen Dreck, den Rücken an eine Betonmauer gelehnt, und hörte einen nahen Schusswechsel. Das Rattern der Maschinengewehre klang zu ihm herüber. Wäre er nüchtern gewesen, wäre er gerannt, denn den Klang dieser Waffen erkannte er sogar in seinem momentanen Zustand. Er hätte sich nicht einmal gefragt, was ein Trupp der Sicherheitskräfte hier in Ostoskoye zu suchen hatte, er wäre einfach in das nächste stinkende Loch geflohen. Doch nun saß er nur da, und irgendwo hinter dem verschwommenen Schleier hoffte er, dass die Frau in der Lederhose die Schießerei überleben würde.
Noch etwas später, der Alkohol ließ nun allmählich nach, spürte er dicke Seile, die ihn fest verschnürten. Seine Füße baumelten in der nächtlichen Leere, und langsam bemerkte er, dass ihm die Erinnerung der letzten Stunden völlig fehlte. Das war jedoch im Angesicht der pechschwarzen, glasig schimmernden Wasseroberfläche des alten Hafenbeckens von Ostoskoye, das mehr als zwanzig Meter unter ihm lag, sein kleinstes Problem. Windböen zerrten an seiner durchnässten Kleidung, peitschten den Regen in seine brennenden Augen, und durch den Tränenschleier klärte sich schließlich sein Blick. Er hing am Haken eines der großen ausrangierten Frachtkräne, in Schwindel erregender Höhe über dem Wasser. Mit offenem Mund starrte er über die Ruinenlandschaft von Ostoskoye, über die heruntergekommenen Wohnviertel von Kjiw-Est auf der anderen Seite des Kjiwsjet, und dahinter erhob sich die gewaltige, dunkle, metallische Masse von Sankto Sarcophagi, dem düsteren Herz seiner verdorbenen Heimat. "Wie friedlich die Nacht aus der Distanz doch ist", kam Groshky die Anfangszeile eines alten Gedichts in den Sinn, während der auffrischende Wind seine pochenden Schläfen kühlte.
Und dann klinkte der Haken des alten Frachtkahns aus.

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