Sonntag, 27. Mai 2007

-eins.002

Um drei Uhr nachts stand der Alte erneut im Regen. Er war im Laufe des Abends ins "Prjet" gegangen, eine der wenigen Kneipen, die es noch wagten, in Ostoskoye ihre Türen zu öffnen. Doch irgendwann gingen auch dort die Lichter aus, und Groshky ahnte, dass es eine ungemütliche Nacht werden würde. Der Regen war nur noch stärker geworden, doch der Alkohol, der Mittlerweile seinen Kreislauf unsicher machte, hatte eine angenehm betäubende Wirkung. Groshky hatte sich im "Prjet" mit einer Frau unterhalten und sich dann auf der Toilette einen runtergeholt. Er war stolz darauf, denn die meisten Männer in den Gebieten um das Dreckloch Ostoskoye und den Industrie-Moloch Lelew hatten spätestens mit der Volljährigkeit auch Probleme mit Impotenz. Die Fremde hatte - wenn er es durch seinen Vorhang aus Alkohol noch richtig verstanden hatte - sogar angeboten, ihm zur Hand zu gehen, doch er hatte nur mit einem dreckigen Grinsen geantwortet, er könne sie nicht bezahlen, und machte es sich selbst.
So ganz genau konnte er sich nicht mehr erinnern, wie er den Weg aus dem "Prjet" herausgefunden hatte, aber er stand dort in der Gasse vor den schweren Stahlvorhängen, die diese letzte Bastion geordneten Lebens schützen sollten. Er wunderte sich, dass er stehen konnte, denn sein Gleichgewichtssinn befand sich bereits im Tiefschlaf. In einem kurzen, wacheren Augenblick fand er Zeit, sich über seinen aufrechten Gang zu wundern, und es war auch dieser Moment, in dem ihm gewahr wurde, dass er sich nicht alleine aufrecht hielt. Irgendwo war diese Frau. Er erkannte sie am Gang und an ihrer engen Lederhose. Dann war sein Kopf wieder wie in Watte gepackt, während der Regen drüben - in der Welt der wahren Wahrnehmung - in kleinen Rinnsälen aus seinem spärlichen Haar über sein Gesicht rann.
Später wurde er noch einmal etwas klarer. Er saß im schlammigen Dreck, den Rücken an eine Betonmauer gelehnt, und hörte einen nahen Schusswechsel. Das Rattern der Maschinengewehre klang zu ihm herüber. Wäre er nüchtern gewesen, wäre er gerannt, denn den Klang dieser Waffen erkannte er sogar in seinem momentanen Zustand. Er hätte sich nicht einmal gefragt, was ein Trupp der Sicherheitskräfte hier in Ostoskoye zu suchen hatte, er wäre einfach in das nächste stinkende Loch geflohen. Doch nun saß er nur da, und irgendwo hinter dem verschwommenen Schleier hoffte er, dass die Frau in der Lederhose die Schießerei überleben würde.
Noch etwas später, der Alkohol ließ nun allmählich nach, spürte er dicke Seile, die ihn fest verschnürten. Seine Füße baumelten in der nächtlichen Leere, und langsam bemerkte er, dass ihm die Erinnerung der letzten Stunden völlig fehlte. Das war jedoch im Angesicht der pechschwarzen, glasig schimmernden Wasseroberfläche des alten Hafenbeckens von Ostoskoye, das mehr als zwanzig Meter unter ihm lag, sein kleinstes Problem. Windböen zerrten an seiner durchnässten Kleidung, peitschten den Regen in seine brennenden Augen, und durch den Tränenschleier klärte sich schließlich sein Blick. Er hing am Haken eines der großen ausrangierten Frachtkräne, in Schwindel erregender Höhe über dem Wasser. Mit offenem Mund starrte er über die Ruinenlandschaft von Ostoskoye, über die heruntergekommenen Wohnviertel von Kjiw-Est auf der anderen Seite des Kjiwsjet, und dahinter erhob sich die gewaltige, dunkle, metallische Masse von Sankto Sarcophagi, dem düsteren Herz seiner verdorbenen Heimat. "Wie friedlich die Nacht aus der Distanz doch ist", kam Groshky die Anfangszeile eines alten Gedichts in den Sinn, während der auffrischende Wind seine pochenden Schläfen kühlte.
Und dann klinkte der Haken des alten Frachtkahns aus.

-eins.001

Drei Tage im dreckigen Regen von Ostoskoye waren zermürbender als die heißesten Sommer im Industriestaub von Lelew. Casparin Groshkos, genannt Groshky, wusste das wie kaum ein anderer, denn er hatte schon mehr Jahre in den Gassen zwischen den Betonruinen und Industrieabwässern verbracht, als die meisten anderen Menschen des Kjiwskagrader Südens. Unzählige Nächte im sauren Regen, unter abgasverschleiertem Mondlicht und in verseuchter, stickiger Sommerluft hatte er durchlebt. Kaum ein lebender Mann in Ostoskoye, der noch aus eigener Erfahrung vom alten Gesicht der Stadt berichten konnte, und auch wenn die Jugend der Straße dem alten Groshky nicht immer Glauben schenkte, er hatte nur die Wahrheit gesagt.
Es war die dritte Nacht im Regen, Groshky hatte einige Nächte lang in einem der verwitterten Shacks eines befreundeten Söldners unten am Rande des Chernbeckens gewohnt. Das Chernbecken am Rande der Stadt, ein verwinkelter See, gespeist von einem armseligen Seitenarm des Kjiwsjet und Sturzbächen aus unterirdischen Zuflüssen von Kanalisation und Industrie, gluckste träge gegen die windschiefe Betonmauer, nur wenige Schritt von der Hütte entfernt. Der Söldner, der Groshky bei sich hatte wohnen lassen, war am Nachmittag zu einem - wie er sagte - gut bezahlten Job aufgebrochen. Groshky wollte nicht mehr darüber wissen, er hatte nicht so viele Jahre überlebt, weil er sich in die Angelegenheiten von Söldnern, Polizei oder dem bewaffneten Widerstand einmischte. Seit diesem Nachmittag war Groshky wieder alleine im Regen. Er hätte wie noch vor einigen Jahren einen der Shacks knacken können, doch mittlerweile hatte selbst er einen Hauch von Diplomatie erfahren, er ließ sich lieber einladen.
Der Regen steigerte die Trostlosigkeit der verdreckten, betonierten Umgebung nur noch mehr. Groshky hatte es sich unter dem herunterhängenden Vordach eines lange eingestürzten Shacks bequem gemacht, sich in seinen alten, löchrigen Parka gewickelt und versuchte gelangweilt, mit herumliegenden Steinen den im Wasser herumtreibenden Müll zu treffen. Am Abend zuvor hatte er noch eine Pfeife mit dem Söldner geteilt und sogar einen Becher heißen Tee getrunken, doch nun - das wusste Groshky - standen wieder unangenehmere Zeiten an. So war es immer.

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